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«Texte haben die Kraft, die Realität zu verändern»

Die Professorin Tina Hascher lehrt und forscht an der Universität Bern. Als unglaublich produktive Autorin gewährt sie uns Einblicke in ihre Schreibpraxis. Im Gespräch erfahren wir zudem, was die Grundlage eines guten wissenschaftlichen Textes ist, was Texte leisten müssen, wie sie die Schreibkompetenzen ihrer Student:innen fördert und welches Geheimnis hinter ihrer eigenen Schreibmotivation steckt.

Liebe Tina. Schön, dass Du Dir Zeit nimmst, um mit mir über das Schreiben zu sprechen. Bei der Vorbereitung auf das Gespräch ist mir aufgefallen, dass Du eine sehr produktive Autorin bist. Gemäss ResearchGate hast Du bereits an 274 Publikationen mitgewirkt. Welches Geheimnis steckt hinter dieser Produktivität?

Ein Geheimnis gibt es nicht – aber ich habe für mich ein Rezept mit 3 Zutaten gefunden:

  1. Ich schreibe mit anderen Menschen, so oft es geht. Ich könnte nicht so viel publizieren, wenn ich alles allein schreiben müsste. Gemeinsam schreiben bedeutet für mich, sich zusammenzusetzen – idealerweise vor Ort – und gemeinsam zu überlegen, was ein gutes Paper sein könnte und wie man die Zusammenarbeit gestaltet.
  2. Um produktiv zu sein, brauche ich Freiräume. Ich reserviere mir Zeitfenster für die Textarbeit – für das Schreiben, Reflektieren und Überarbeiten. Ich brauche diese fixen Schreibblöcke, nur dann komme ich in den Schreibfluss. Und ja: Auch bei mir harzt es oft zu Beginn eines Textes.
  3. Ich brauche einen Plan. Wenn ich einen Schreibauftrag annehme oder einen Text plane, skizziere ich früh eine mögliche Struktur, damit ich eine ungefähre Vorstellung der Inhalte bekomme. Manchmal habe ich die ersten Zeilen bereits früh im Kopf. Wenn ich es schaffe, diese aufzuschreiben, dann fällt mir das Schreiben anschliessend einfacher, denn der Zeitraum zwischen der Zusage oder des Beginns eines Textes und seiner Fertigstellung kann sehr lang sein.

Und was meine Produktivität auch erklären kann: Ich setze mich gerne schreibend mit einem Thema auseinander.

Du hast gesagt, dass es auch bei Dir als geübte Schreiberin manchmal harzt, wenn Du an einem Text arbeitest. Was unternimmst Du, wenn Du partout nicht in den Schreibfluss findest?

Dann nehme ich oft Texte zum Thema hervor, um darin zu lesen. Das hilft mir, mich dem Thema anzunähern und einen Einstieg zu finden. Ich beginne da, wo mich meine Gedanken gerade hinführen und wo ich am wenigsten Widerstände habe: So kann es sein, dass ich mit dem Schlusswort beginne. Die Hauptsache ist, dass ich mit dem Schreiben anfange. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als vor einem leeren Blatt oder einer leeren Seite zu sitzen.  Deshalb ist es mir wichtig, einfach mal etwas aufs Papier zu bringen, auch wenn ich den Text später teilweise oder ganz wieder lösche. Es gibt immer einen Ort, an dem man beginnen kann – sei das eine Definition, ein Exkurs oder die Beschreibung einer Studie. Wenn man erst einmal begonnen hat, kommt man auch nach Pausen wieder schneller in den Schreibfluss.

Was mir bei einem Schreibstau auch hilft: Ich überlege mir, wie ich bei früheren Texten vorgegangen bin und entwickle eine provisorische Gliederung, an der ich mich entlangarbeiten kann. Das ist für mich extrem wichtig, auch wenn der Text schlussendlich anders strukturiert ist als ursprünglich angedacht.

Arbeitest Du in der Strukturierungsphase auch visuell?

Ja – die bildliche Vorstellung eines Texts hilft mir enorm. Deshalb arbeite ich oft mit Concept-Maps oder Mindmaps. Ich zeichne die mögliche Struktur des Texts auf ein Blatt Papier, das mich während des Schreibens begleitet und das ich von Zeit zu Zeit anpasse – insbesondere, wenn ich irgendwo feststecke oder es mir schwerfällt, Gedanken in Worte zu fassen.

Zu unserer Interview-Reihe mit Schreib- und Fachtext-Profis gehört es, dass der letzte Interview-Gast dem nächsten eine Frage stellen darf. Alexandra Peischer hat Dir zwei Fragen gestellt, die erste passt hier gut: Wie schaffst Du es, Deine eigene Schreibmotivation aufrechtzuerhalten?

Ich bin grundsätzlich intrinsisch motiviert, weil das Schreiben eine Aufgabe ist, bei der ich ein Produkt herstellen kann. Das ist deshalb so motivierend für mich, weil es in meinem Beruf viele Aufgaben gibt, die abstrakt sind und sich nicht so produktiv anfühlen. Wohl deshalb gefällt es mir auch so gut, mit anderen Menschen zu schreiben – gemeinsam mit anderen Menschen etwas zu erschaffen, das stimuliert meine Motivation, auch in anderen Lebensbereichen. Was meine Motivation auch noch befeuert, sind gute Ideen – für die lasse ich mich gerne gewinnen.

Wissenschaftliches Schreiben mit anderen Menschen – wie geht das?

Ich möchte nun etwas auf das kollaborative Schreiben eingehen. Wie sieht ein gemeinsamer Schreibprozess aus? Gibt es in den Schreibteams immer eine klare Aufgabenteilung?

Meine Erfahrung ist: Man muss einen Text am Anfang zusammen besprechen – egal, ob man sich kennt oder nicht. So können alle ihre Ideen einbringen und man entwickelt ein gemeinsames Verständnis für das Thema. Das ist für die weitere Textarbeit wichtig. Zur Aufgabenteilung: In letzter Zeit habe ich öfter erlebt, dass man wirklich zusammen schreibt, zum Beispiel in Google Docs. Dann schreiben alle an allen Kapiteln – man liest andere Teile durch und ergänzt und überarbeitet fortlaufend. Dazu braucht es aber viel gegenseitiges Vertrauen.

Das finde ich spannend. Ich hätte jetzt eher damit gerechnet, dass man den Text klar aufteilt.

Das ist auch häufig so. Jemand ist zum Beispiel verantwortlich für den Theorieteil, jemand für die Auswertung und gemeinsam arbeitet man dann an der Diskussion. Eines darf aber nie fehlen: Feedback. Man muss sich aus meiner Sicht immer gegenseitig Feedback geben und den Text redigieren können. Ich greife oft stark ein – ich warne dann immer, ich sei «maximal invasiv» (lacht) –, aber halte es auch aus, wenn die anderen bei mir streichen und ergänzen. Denn manchmal schleichen sich Formulierungen ein, die nicht zum Verständnis beitragen, an denen man aber hängt. Um sich von diesen zu trennen, hilft ein Blick von aussen.

Wie gebt ihr euch denn Feedback? Wie kann ich mir das vorstellen?

Das Feedback gestaltet sich bei allen Texten etwas anders. Ein wichtiger Faktor ist die Textform. Es gibt Texte, bei denen man viel zusammenarbeitet und sich Textteile schickt, weil alle ihr Wissen einbringen sollen. Und es gibt Texte, in denen das weniger eine Rolle spielt – zum Beispiel, wenn eine Person für die Analyse zuständig ist. Die lese ich natürlich auch durch und gebe Feedback zur Sprache und zum Textverständnis, aber weniger dazu, wie ausgewertet wurde.

Wie gehen die Leute in einem Schreibteam mit dem Feedback um?

Ganz unterschiedlich: Manche halten es besser aus, wenn eigene Texte korrigiert werden, andere haben Mühe damit. Was ich gelernt habe: Wer nicht aushalten kann, dass der eigene Text korrigiert wird, mit der/dem arbeite ich besser nicht zusammen. (lacht)

Was gute wissenschaftliche Texte ausmacht – und was nicht

Das Ziel beim Schreiben ist ja immer, dass ein guter Text entsteht. Was macht aus Deiner Sicht einen guten wissenschaftlichen Text bzw. eine gute wissenschaftliche Arbeit aus?

Die Grundlage eines guten Textes sind gute Ideen. Wenn Du zum Beispiel einen Artikel zum Thema «Lernen im Praktikum» schreibst, könntest Du einfach auflisten, welche Erkenntnisse es dazu gibt. Doch das bringt die Lesenden nicht zum Nachdenken. Wenn Du hingegen bestimmte Erkenntnisse klug miteinander verknüpfst, indem Du zum Beispiel das Thema «Mentoring» einbindest, ermöglichst Du eine ganz neue Perspektive auf das Thema. In der Diskussion sollte man beispielsweise nicht nur wiederholen, was man bereits geschrieben hat. Vielmehr geht es darum, die Gedanken weiterzuentwickeln. Das ist oftmals herausfordernd und auch ich kann das nicht immer – vor allem, wenn ich erst mal zufrieden und begeistert von meinen Ergebnissen bin und finde, sie allein sind es schon wert, dass der Text gelesen wird. Ein guter Text soll aber immer einen maximalen Mehrwert für die Leser:innen und die Disziplin bieten. Ein schön geschriebener Text bringt nichts, wenn er keine relevanten Inhalte bereithält. Dennoch ist es wertvoll, wenn der Text sprachlich ausgefeilt ist. Das erhöht die Verständlichkeit und zeigt auch, dass Wissenschaft und schöne Sprache sich nicht ausschliessen.

Wenn Du schon den Stil ansprichst: Was macht aus deiner Sicht einen sprachlich ansprechenden wissenschaftlichen Text aus?

Ein Text muss beim Lesen fliessen – man muss die Gedankengänge nachvollziehen können. Deshalb sind die Übergänge zentral: Sie zeigen, wieso das vorher Geschriebene wichtig ist für das, was folgt. Wenn man das beim Schreiben konsequent umsetzt, überprüft man gleichzeitig, ob das vorher Geschriebene wirklich relevant ist für den eigenen Text, oder ob man nur zeigen möchte, dass man diese eine Quelle auch noch gelesen hat. Das ist manchmal nicht ganz einfach zu unterscheiden. In vielen Fällen lohnt es sich, den Text ein paar Tage wegzulegen, ruhen zu lassen und ihn erst mit ein bisschen Abstand wieder zu überarbeiten. Denn wenn man im Thema versunken ist, merkt man kaum, ob Übergänge fehlen oder ob es inhaltliche Brüche gibt.

Gibt es auch Eigenheiten oder Konventionen von wissenschaftlichen Texten, mit denen Du Mühe hast?

Ich habe Mühe mit starken Normierungen. Zum Beispiel wenn Einleitungen so kurz wie ein Abstract sein müssen, direkt danach die Methode und die Ergebnisse kommen und am Ende auch die Diskussion kurz sein muss. Bei solchen Texten denke ich mir manchmal: «Die könnten auch Forschung mit Schafen machen»  (lacht). In solchen Fällen stehen nur noch Zahlen und komplexe Analyseverfahren im Vordergrund. Meines Erachtens werden Zahlen allein der Komplexität eines Themas nicht gerecht – es braucht theoretisch fundierte Begründungen, mit denen die Zahlen in einen grösseren Kontext eingeordnet und erklärt. werden. Eine weitere Schwierigkeit bei solchen Texten ist für mich: Wenn Theorien nur verkürzt und additiv wiedergegeben werden. Darunter leidet die Verständlichkeit. Die Leser:innen müssen sich dann nämlich selbst überlegen, wie die Theorien zusammenhängen könnten – das ist aber die Aufgabe der Autor:innen. Wenn Theorien nicht durchdringen und es keinen zusammenhängenden roten Faden gibt, sind für mich die Ergebnisse oft auch nicht so relevant.

Gibt es auch Eigenheiten der wissenschaftlichen Sprache, die Dich stören?

Schlechter Stil. Wenn Sätze so lang sind, dass ich beim Lesen nach kurzer Zeit nicht mehr weiss, wo sie angefangen haben und was ich eigentlich gelesen habe, stört mich das. Es gibt Menschen, die der Meinung sind, Schwerverständlichkeit sei ein Qualitätsmerkmal wissenschaftlicher Texte. Das sehe ich ganz anders.

Das erinnert mich an etwas, was Du mir vor längerer Zeit einmal gesagt hast: Wenn man einen Text liest und anschliessend nicht sicher ist, was man gelesen hat, dann ist das ein Hinweis darauf, dass die Autor:in wahrscheinlich nicht viel zu sagen hatte und das mit komplizierten Formulierungen zu kaschieren versuchte.

Schön, dass Du Dich daran erinnerst! Es gibt tatsächlich Menschen, die zu allem etwas sagen, aber an sich nicht viel zu sagen haben.

Wissenschaftliches Schreiben im Studium

Lass uns noch über Menschen sprechen, die sich das wissenschaftliche Schreiben noch aneignen: Du begleitest Studierende und Doktorierende beim Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten. Ich steige gleich mit der zweiten Frage von Alexandra Peischer ein: Wie schaffst Du es, die Studierenden beim Schreiben zu motivieren?

Ich versuche, meinen Studierenden immer ausführliche und verständliche Instruktionen zu den Texten zu geben, die sie schreiben müssen. Damit möchte ich ihnen möglichst viel Orientierung bieten. Kürzlich habe ich in einem Seminar etwas ausprobiert, was gut aufgenommen wurde: Die Studierenden hatten Schwierigkeiten mit dem Schreiben der Seminararbeit. Sie konnten sich nicht so recht vorstellen, wie die Arbeit aussehen könnte – nicht zuletzt, weil wir ihnen viel Freiraum gegeben hatten. Deshalb habe ich ihnen gesagt, wie ich vorgehen würde, wenn ich die Seminararbeit schreiben müsste. Ich habe ihnen mein Vorgehen modelliert und erklärt, weshalb ich was wie tun würde. Ich glaube, das hat ihnen geholfen. Sie haben auch verstanden, dass sie mit der Herausforderung nicht alleine sind.

Dürfen Dir die Studierenden vor der Abgabe Textteile zuspielen für eine Rückmeldung?

Ich ermutige sie sogar dazu, mir Textentwürfe zu zeigen, bevor sie die Arbeit abgeben – zum Beispiel bei einer Bachelorarbeit. Dann gebe ich eine Rückmeldung und an dieser können sie sich orientieren. Meist gebe ich ihnen meine Notizen und manchmal diskutieren wir über Themen, bei denen sie nicht weiterkommen. Wenn es passt, empfehle ich ihnen gelungene Arbeiten als Orientierungshilfe und Inspirationsquelle.

Wie unterstützt Du Studierende, die bereits etwas weiter sind und an ihrer Master- oder Doktorarbeit schreiben?

Ich versuche, sie im Rahmen unserer Forschungskolloquien zusammenzubringen, damit sie sich gegenseitig austauschen und unterstützen können. Ich ermutige sie, sich gegenseitig Peer-Feedback zu geben. Was ich auf keinen Fall mache: Ich sage niemandem, dass das Schreiben eine einfache Aufgabe ist. Vielmehr versuche ich zu vermitteln, dass das Schreiben von wissenschaftlichen Texten manchmal auch Menschen mit viel Schreiberfahrung schwerfällt – so auch mir. Bei publikationsbasierten Doktorarbeiten verfassen die Doktorierenden auch oftmals Texte gemeinsam mit mir. Das hilft ihnen auch, sich beim Schreiben weiterzuentwickeln. Ausserdem bieten wir immer wieder Schreibworkshops an.

Kürzlich bin ich in einem Artikel über eine Aussage zu den Schreibkompetenzen von Studierenden gestossen. Da stand, dass die Studierenden immer schlechter schreiben würden. Wie schätzt Du die Schreibkompetenzen der Studierenden ein und was können Institutionen tun, um die Schreibkompetenzen zu stärken?

Meines Erachtens schreiben die Studierenden nicht besser oder schlechter als vor einigen Jahren. Was wichtig ist – aber das war wahrscheinlich schon immer so: Man muss ihnen viel Übungsmöglichkeiten geben – und zwar früh. Darüber hinaus brauchen sie Textfeedback, um sich weiterentwickeln zu können. In den Seminaren orientieren wir uns zunehmend an Rastern und ergänzen diese mit Kommentaren. Das unterstützt die Studierenden in der Entwicklung ihrer Schreibkompetenzen. Ein entscheidender Punkt ist bestimmt auch die eigene Haltung dem Schreiben gegenüber: Ich glaube, man muss viel Kritik einstecken können, um sich beim Schreiben zu verbessern.  Neben einer offenen Haltung gegenüber Kritik muss man auch bewusst an seinen Schreibfähigkeiten arbeiten wollen. Dazu gehört es auch, viel zu lesen. Denn über das Lesen eignet man sich passives Wissen an, das man beim Schreiben «übersetzen» und anwenden kann. Deswegen müssen meine Studierenden viel lesen.

Wenn Du wissenschaftliche Arbeiten begleitest: Vor welchen Herausforderungen stehen die Schreibenden?

Die Entwicklung des roten Fadens ist immer eine Herausforderung – egal, ob es einen kurzen oder einen langen Text zu schreiben gilt. Deshalb brauchen viele früh im Schreibprozess eine Beratung. Was mir immer wieder auffällt: Manchmal merken die Studierenden gar nicht, dass sie den roten Faden suchen und noch nicht gefunden haben. Dann spreche ich sie darauf an und weise sie auf die Wichtigkeit von Einleitungen und Überleitungen hin. Denn gerade an thematischen Brüchen erkennt man, dass der rote Faden noch nicht vollständig entwickelt ist. Ich gebe ihnen in solchen Situationen am liebsten mündliche Rückmeldungen, weil ich ihnen so besser erklären kann, dass sie zum Beispiel empirische Erkenntnisse lediglich aneinanderreihen, aber nicht integrieren. Ich veranschauliche solche Rückmeldungen immer an Textstellen. Manchmal sehen die Studierenden auch vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Sie vergessen zum Beispiel, sich am Raster zu orientieren, das wir in den Seminaren nutzen. Dort steht eigentlich alles drin, was die Arbeit enthalten sollte. Das kann ihnen Orientierung bieten und ihnen Angst nehmen.

Als erfahrene Autorin hast Du viele wertvolle Schreiberfahrungen gesammelt. Welche Schreibtipps möchtest Du jungen bzw. angehenden Wissenschaftsautor:innen mitgeben?

Mein erster Tipp: Sucht Euch für jede Textsorte ein gutes Vorbild, an dem Ihr Euch orientieren könnt. Das kann eine Proseminararbeit, ein Praktikumsbericht oder eine Zusammenfassung sein. Lest also viel! Ihr lernt viel übers Schreiben, wenn ihr bewusst lest.

Mein zweiter Tipp: Tauscht Eure Texte aus und vergleicht sie miteinander. Stellt Euch Fragen wie: Wie ist die Qualität des anderen Textes? Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Und wo gibt es Unterschiede? Und wann immer es geht: Holt Euch aktiv Feedback ein.

Mein dritter Tipp: Teilt bei Gruppenarbeiten nicht zu viel auf – versucht, am ganzen Text mitzuwirken und ein gemeinsames Produkt zu erstellen. Denn nur so lernt Ihr, wie Ihr ganze Texte schreibt. Ihr werdet nicht besser, wenn Ihr x-fach eine Einleitung schreibt. Nutzt jede Schreibgelegenheit, die Ihr erhaltet, um die Eigenheiten von wissenschaftlichen Texten besser zu verstehen.

Mein vierter Tipp: Lest Ratgeberliteratur rund ums Schreiben, nutzt Beurteilungsraster, wenn es welche gibt, und fragt bei Dozierenden nach, wenn Ihr etwas nicht versteht.

Mein fünfter Tipp: Habt zu Beginn des Studiums nicht zu hohe Ansprüche an Eure Arbeiten. Die Kompetenzen im wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben muss man sich über Jahre oder Jahrzehnte aufbauen. Kennt Euren eigenen Schreibentwicklungsstand und verbessert diesen von einer Arbeit zur nächsten.

Und: Habt Freude daran, Euch mit Euren eigenen Gedanken auseinanderzusetzen und diese schriftlich festzuhalten.

Über Stolz auf eigene Texte und die Kraft von guten Ideen in Texten

Nun knüpfe ich nochmals an meine erste Frage an. Gibt es unter den vielen Artikeln, Beiträgen und Büchern, die Du geschrieben hast, einen Text, auf den Du besonders stolz bist?

Spontan denke ich an den Text Die Erfahrungsfalle. Ich habe diesen Text zu einer Zeit geschrieben, als ich intensiv über das Argument nachgedacht habe, dass Berufserfahrung nicht ausreicht, um eine gute Lehrperson zu sein. Ich wollte mich kritisch, aber konstruktiv mit dem Thema auseinandersetzen und zeigen, dass es für guten Unterricht neben Erfahrung unter anderem auch viel Wissen braucht. Mit dem Wort «Erfahrungsfalle» gelang es mir etwas auszudrücken, was mich damals beschäftigte – dass die Erfahrung an sich noch keine Kompetenz ausmacht und dass Lehrpersonen, die langjährige Erfahrungen aufweisen, nicht unbedingt besseren Unterricht machen als Personen mit weniger Erfahrung. Der Text gibt mir auch heute noch ein gutes Gefühl, weil ich denke, dass ich für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung Denkanstösse geben konnte.

Stolz bin ich auch auf Handbuch-Artikel oder auf Artikel, die zum Teil über Jahre entstanden sind und die in einer hochrangigen peer-reviewten Zeitschrift erscheinen. Ein Artikel von mir und Jennifer Waber zum Wohlbefinden von Lehrpersonen ist ein Beispiel. Auf solche Texte bin ich stolz, weil sie Reichweite ermöglichen und gleichzeitig Expertise ausstrahlen.

Die Zeit vergeht wie im Flug – nun reden wir schon fast eine Stunde. Deshalb meine letzte Frage: Gibt es etwas, das Du noch gerne loswerden möchtest?

Vielleicht das: Das Schöne am Schreiben ist, dass man ein Thema auf die Agenda von anderen Menschen setzen kann! Bücher oder Artikel haben die Kraft, die Realität mitzugestalten und manchmal sogar zu verändern. Deshalb sollten sich alle Schreibenden fragen, welche Ideen sie anderen Menschen mitteilen möchten. Man sollte Texte schreiben, die bei der Zielgruppe etwas auslösen. Ich weiss, das ist keine einfache Aufgabe– aber es ist eine, für die sich all die Anstrengung lohnt.


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