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Der Schreibprozess – das Geheimnis hinter jedem Fachtext

Im Schreibgespräch sprechen die Schreibcoaches David Bisang und Daniel Stalder über den Schreibprozess.

Ein Gespräch über den Schreibprozess

Wie entstehen eigentlich Fachtexte? Das ist ein gut gehütetes Geheimnis, weil wir selten über unseren Schreibprozess sprechen. Deshalb beurteilen wir das Schreiben immer über das Produkt – den fixfertigen Text. Der gibt aber keine Auskunft darüber, wie das Schreiben wirklich verläuft. In unserem Gespräch geben wir Dir Einblicke hinter die Kulissen des Schreibens.

Daniel: Viele Leute messen das Schreiben ausschliesslich am veröffentlichten Text, also am fertigen Produkt. Das ist naheliegend, weil der Text sichtbar ist. Als Lektor sage ich: Das ist auch richtig, denn das Publikum soll selbst bestimmen, ob ein Text lesenswert ist oder nicht. Als Schreibcoach fände ich es aber wertvoll, wenn man das Schreiben nicht nur am Produkt messen würde, sondern auch am Prozess: Wie ist die Autor:in beim Schreiben vorgegangen? Wie ist sie mit Herausforderungen umgegangen? Welche Strategien hat sie angewendet?

Wie siehst Du das: Wie wichtig ist der Schreibprozess?

David: Ganz ähnlich wie Du. Der Schreibprozess bildet ja auch den Denkprozess ab. Bis eine Autor:in also einen gut lesbaren Text geschrieben hat, muss sie mehrere Schritte im Prozess wiederholen. Sonst wird sie die angestrebte Textqualität kaum erreichen können.

Kannst Du das noch ein wenig ausführen: Inwiefern ist der Schreibprozess ein Denkprozess?

Wissen wird in der Fachwelt meistens in Textform festgehalten. Die Auswahl von relevanten Inhalten, die Formulierung von klaren Kernaussagen, die Ausarbeitung einer stichhaltigen Argumentation und so weiter – für all das braucht man seinen Kopf. Gleichzeitig sind das Aufgaben, die während des Schreibprozesses anstehen und die man bewältigen muss. Der Schreibprozess strukturiert so unser Denken.

Wie hilft Dir Dein Schreibprozess, Deine Gedanken, aber auch Deine Arbeitsweise zu strukturieren?

Als ich noch wenig Schreiberfahrung hatte, habe ich mich mit verschiedenen prototypischen Schreibprozessen auseinandergesetzt. Das hat mir geholfen, mich als Schreiber besser kennenzulernen. Irgendwann wusste ich, welche Schritte für mich wichtig sind.

Kannst Du ein Beispiel machen?

Früher habe ich mich oft verzettelt, weil ich mein Thema nicht genug eingegrenzt hatte. Als ich endlich verstanden habe, wie wichtig die Eingrenzung ist, um fokussiert und zielgerichtet zu schreiben, war das ein echter Aha-Moment. Wenn mir von Anfang an klar ist, was mein Ziel ist, kommt mir das später im Schreibprozess zugute: Ich komme beim Schreiben nicht vom Weg ab und muss auch beim Überarbeiten weniger geradebiegen.

Mit dem Schreibprozess strukturiert schreiben

David: Wie sieht Dein Schreibprozess aus?

Daniel: Zuerst überlege ich mir, was ich bereits über ein Thema weiss. Das mache ich mit kurzen Freewriting-Sessions und mithilfe von Mindmaps. Diese Auslegeordnung hilft mir beim nächsten Schritt: den Fokus auf ein Thema oder ein Kommunikationsziel zu legen. Gleichzeitig decke ich so aber auch Wissenslücken auf: Ich merke relativ schnell, was ich noch recherchieren oder mit wem ich noch sprechen muss, um diese Lücken zu schliessen. Danach sammle ich alle Informationen, lese mich vertieft ein und beginne, eine Struktur zu entwerfen. Bei längeren Texten entwickle ich ein Gerüst aus Überschriften, unter die ich die Inhalte stichwortartig aufschreibe. Bei kürzeren Texten sammle ich zuerst die Kernaussagen und entwerfe dann die Absatzstruktur.

Du gehst also sehr strukturiert vor.

Nur bis ich mit dem Schreiben der Rohfassung beginne – ab dann gehe ich ziemlich frei mit der entworfenen Struktur um: Ich stelle um, streiche, füge hinzu. Die Struktur gibt mir nur die Richtung vor. Welchen Weg ich am Ende einschlage, zeigt sich mir immer erst während des Schreibens, weil ich viele meiner Gedanken auch schreibend entwickle.

Dein Vorgehen zeigt eigentlich ganz gut, dass der Schreibprozess eben auch ein Denkprozess ist. Man kann einen Text nicht zuerst denken und ihn dann genau so aufschreiben. Beim Schreiben rattert es im Oberstübchen nämlich gehörig weiter: Man erkennt, welche Ideen verworfen werden müssen und sucht nach neuen, stichhaltigeren Kernaussagen und Argumentationen.

Richtig. Ich brauche immer eine grobe Struktur, um mit dem Schreiben der Rohfassung beginnen zu können. Wenn ich aber mitten im Schreiben stecke, muss ich die Struktur sprengen können.

Läufst Du dann nicht Gefahr, Dich zu verzetteln?

Wenn Du damit meinst, ob ich auch Käse schreibe? Natürlich. Den Fokus verliere ich aber nicht – ich weiss immer, worauf ich hinschreibe. Aber Du sprichst natürlich etwas Wichtiges an. Weil ich mir beim Schreiben diese Freiheit herausnehme, den ursprünglichen Plan zu verlassen, ist die Überarbeitungsphase für mich besonders wichtig. Diese nehme ich sehr ernst. Und dann kommst ja meistens auch Du ins Spiel: Ich gebe Dir eine solide Textfassung und bitte Dich um ein Feedback. Gemeinsam hieven wir dann das Geschriebene auf die nächste Stufe. Danach geht es dann nur noch um sprachliche Kleinigkeiten.

Texte aus der Hand geben

David: Gibst Du Deine Texte grundsätzlich erst aus der Hand, wenn Du schon viel Zeit in sie investiert hast?

Daniel: Ja, definitiv. Ich möchte meinem ersten Leser – das bist ja meistens Du – nicht zu viel Arbeit abgeben. Das heisst aber nicht, dass ich nicht schon während des Schreibens Ideen im Gespräch teste und wertvolle Inputs einfliessen lasse. Ich kann Dir auch erklären, warum ich meine Texte später als andere aus der Hand gebe: Je weniger ausgearbeitet ein Text von mir ist, desto mehr Mühe habe ich mit den Rückmeldungen. Denn oft gehen die Rückmeldungen für mein Kommunikationsziel in eine falsche Richtung. Manchmal habe ich dann sogar das Gefühl, dass mein Text eine Einladung für die andere Person ist, mir ihre Gedanken aufzudrücken. Dem kann ich entgegenwirken, wenn ich meine Gedanken schon glasklar aufs Blatt bringe – und um diese zu entwickeln, helfen mir auch Gespräche vor und während des Schreibens.

Wie war das, als Du noch als Fachredakteur gearbeitet hast?

Ganz ähnlich: Ich habe meinen Redaktionskolleginnen meine Ideen für die Fachartikel vorgestellt und festgelegt, welches Kommunikationsziel ich mit dem Artikel erreichen möchte. Manchmal habe ich früh eine grobe Struktur skizziert und die Kernaussagen formuliert. Ich habe vor dem Schreiben immer versucht zu klären, was der Text leisten muss. Wenn die relevanten Botschaften für alle klar sind, tauchen beim Redigieren Deiner Artikel keine grösseren Probleme auf. Schliesslich fallen dann auch die Rückmeldungen konkreter und konstruktiver aus. Je fokussierter Dein Text ist, umso fokussierter ist die Rückmeldung.

Und desto besser kannst Du als Autor damit umgehen. Denn auf einen sehr allgemein gehaltenen Text ist es ja auch schwierig, eine gezielte Rückmeldung zu geben. Und wenn man es doch versucht, drückt man der Autor:in seine eigenen Vorstellungen auf – und das kann zu Stunk führen. Mit diesem Dilemma haben wohl viele Redaktionen zu kämpfen.

Herausforderungen unserer Schreibcoachees

Daniel: Lass uns nochmals über den Schreibprozess sprechen: In unseren prozessorientierten Schreibcoachings unterstützen wir Menschen dabei, ihre Schreibkompetenzen weiterzuentwickeln. Die meisten stecken mitten in einem Schreibprojekt und stehen vor einer oder mehreren Herausforderungen. Wie ist das bei Deinen Coachees– was sind ihre grössten Herausforderungen beim Schreiben?

David: Wahrscheinlich ist es die fehlende Eingrenzung. Die Leute wissen teilweise gar nicht, was sie sagen möchten, weil sie keine Mittel kennen, um relevante von weniger relevanten Informationen zu unterscheiden. Das führt zu einer gewissen Orientierungslosigkeit, die sich noch verstärkt, wenn man mit dem Schreiben beginnt und sich immer mehr Text anhäuft, der kein klares Kommunikationsziel hat. Dann entsteht Frustration. Das andere, was mir viel begegnet: Schreibblockaden. Viele wissen nicht, was sie schreiben sollen, weil sie konzeptlos unterwegs sind oder sich nicht zutrauen, einen guten Text zu schreiben.

Woran könnte das liegen, dass die Leute oft nicht recht wissen, was sie schreiben sollen?

Viele wissen zum Beispiel nicht, dass sie über ihre Schreibprojekte reden sollten. Denn wir formen unsere Gedanken ganz anders, wenn wir sie aussprechen, als wenn wir sie ständig nur in unserem Kopf drehen. Wenn wir mit niemandem über unsere Texte sprechen, kann niemand auf unsere Ideen reagieren; niemand kann kritische Fragen stellen oder wertvolle Inputs geben, die einem im Denkprozess weiterbringen könnten. Sogar an Orten, wo viel geschrieben wird – z. B. an Hochschulen – fehlt oft eine Kultur, in der man sich gegenseitig beim Denken unterstützen würde. Die Leute sind und bleiben viel zu oft im stillen Kämmerlein. Wie siehst Du das: Wie wichtig ist es für Autor:innen, aus dem stillen Kämmerlein zu treten?

Ich teile Deinen Eindruck: Die Leute sind oft nur bei sich und wohl deshalb auch kaum in der Lage, die Perspektive zu wechseln. Für wen schreibe ich? Was erwartet meine Zielgruppe von meinem Text? Und was ist für sie relevant? Solche Fragen würden vielen bereits helfen, ihre Themen einzugrenzen, einen klareren Fokus zu gewinnen und schliesslich auch zielgerichteter zu schreiben. Weil viele Fachpersonen für Lai:innen schreiben, könnte sie dieser Perspektivenwechsel sogar entlasten. Denn für Menschen, die nicht vom Fach sind, muss man nicht den gleichen inhaltlichen Tiefgang liefern wie für Expert:innen. Sich dessen bewusst zu sein, kann befreiend wirken.

Die Zielgruppe zu bestimmen, ist ein zentraler Punkt am Anfang eines Schreibprozesses – und der geht tatsächlich viel zu oft vergessen. Das ist tragisch. So kann es zum Beispiel passieren, dass jemand einen umfassenden Überblick gibt über die Entwicklung eines bestimmten Verfahrens und nicht merkt, dass all diese aufwendig recherchierten Informationen für die Zielgruppe überhaupt nicht relevant sind – diese will nämlich nur wissen, wie das Verfahren funktioniert.

Eine weitere grosse Herausforderung im Schreibprozess ist für viele, überhaupt ins Tun zu kommen – und damit meine ich noch nicht einmal das Schreiben. Viele schaffen es schlicht nicht, einen Einstieg in ihre Schreibprojekte zu finden – zu gross erscheint ihnen der diffuse Aufgabenberg, der vor ihnen liegt. Wie kann einem der Schreibprozess helfen, ins Tun zu kommen?

Der Schreibprozess hilft einem zu verstehen, wie man das Schreibprojekt angehen kann. Jedes Projekt hat ein Anfang und ein Ende – und dazwischen gibt es mehrere Phasen, in denen es unterschiedliche Aufgaben zu erledigen gibt. Also beginnt man, die Aufgaben für jede Schreibphase festzulegen und sie zu priorisieren. So wird dieser diffuse Aufgabenberg nach und nach bearbeitbar, weil wir eine Vorstellung davon bekommen, was es jetzt konkret zu tun gibt.

Und welche Vorteile hat das?

Den Leuten fällt es dann viel einfacher, ins Tun zu kommen, wenn eine konkrete Aufgabe vor ihnen liegt. Wie viele Phasen ein Schreibprozess hat, spielt eigentlich keine Rolle. Manche kommen mit 3 Phasen aus – denken, schreiben, redigieren –, andere brauchen 8 oder mehr: einlesen, Material sammeln, Gespräche führen, Struktur entwerfen, Rohfassung schreiben, Feedback einholen, Text überarbeiten und abschliessen.

Aha-Erlebnisse

Daniel: Wenn Du mit Deinen Coachees ihren individuellen Schreibprozess erarbeitest: Was sind die grössten Aha-Erlebnisse, die Du feststellst?

David: Für viele ist das grösste Aha-Erlebnis, dass es überhaupt einen Schreibprozess gibt – dass das Schreiben in Phasen verläuft und die Aufgaben in bearbeitbare Häppchen aufgeteilt werden können. Viele haben noch nie strukturiert über das Schreiben nachgedacht. Manchmal sind das sogar Leute, die bereits doktoriert haben – was ja verrückt ist. Und was sind Aha-Erlebnisse Deiner Schreibcoachees?

Es beruhigt viele Menschen, dass der Schreibprozess nicht linear, sondern rekursiv verläuft.

Was heisst das?

Es ist ganz normal, dass wir beim Schreiben gewisse Phasen mehrmals durchlaufen. Bevor sie das erfahren, schämen sich manche Fachtext-Autor:innen sogar dafür, dass bei ihnen nicht immer alles wie am Schnürchen läuft. Für viele ist es eine Erleichterung, wenn sie merken, dass es normal ist, dass sich die Gedanken beim Schreiben weiterentwickeln und dass man neue Wissenslücken aufdeckt und nochmals recherchieren muss, obwohl man schon mitten in der Überarbeitungsphase steckt.

Auch hier zeigt sich wieder: Der Schreibprozess ist nicht vom Denkprozess loszulösen. Wenn wir schreiben, denken wir, weil wir uns ja intensiv mit einem Thema beschäftigen. Also ist es klar, dass wir auch unsere ursprüngliche Textkonzeption hinterfragen, je mehr Wissen wir aufbauen und je tiefer wir ins Thema eintauchen. Das zeigt ja auch, wie abhängig das Produkt – also der Text – vom Prozess ist. Deshalb müssen wir als Schreibcoachs prozessorientiert arbeiten.

Das grosse Geheimnis hinter jedem Text ist der Schreibprozess. Wir sehen immer nur die Fassade, also den Text selbst; wie der Text entstanden ist, wissen wir nicht. Wir sehen nicht hinter die Kulisse. Weil wir nur die Texte sehen, dienen sie uns auch als Vorbilder für unser eigenes Schreiben: Wir imitieren – und leider oft auch die schlechten Fachtexte. Wenn man aber beginnt, mit dem Schreibprozess zu arbeiten, lüftet man eigentlich das grosse Geheimnis des Schreibens – der Vorhang fällt und man beginnt zu verstehen. Und ich sage bewusst «beginnt», denn in die emotionalen Aspekte gibt der Schreibprozess ja keinen Einblick.

Was meinst Du mit emotionalen Aspekten?

Wie hat die Autor:in gelitten? Was hat sie mit Bravour gemeistert? Warum ist sie fast gescheitert? Wie hat sie doch noch die Kurve gekratzt? Und so weiter. Deswegen sollten wir das Gespräch über das Schreiben neu führen: weniger produkt- und mehr prozessorientiert.

Unbedingt. Es wäre schön, wenn sich alle Fachpersonen gegenseitig mehr Einblicke in ihre Schreibprozesse geben würden – und miteinander auch über ihre Emotionen beim Schreiben sprechen würden. Sonst bleibt das Geheimnis, wie Fachtexte entstehen, gut gehütet.

Lesen, schreiben, reden

Daniel: Dann möchte ich zum Schluss noch etwas mehr Licht ins Dunkel bringen. In einem Schreibprozess gibt es neben den tausend Aufgaben 3 begleitende Tätigkeiten, die man in allen Phasen ausführt: Das Lesen, das Schreiben und das Reden. Ich möchte hier auf das Reden etwas genauer eingehen. Wir beide tauschen uns jeden Tag über unsere Ideen aus. Wir testen Gedanken, schärfen sie, entwickeln sie gemeinsam weiter und giessen sie am Schluss in eine Form: in ein Geschäftsmodell, in ein Kommunikationskonzept, in einen Blogbeitrag oder einen Fachartikel. Wie wichtig ist es Deiner Meinung nach, dass die Fachtext-Autor:innen über ihre Texte reden?

David: Es ist aus meiner Sicht eigentlich unverzichtbar. Wir sehen es im Schreibcoaching ja jeden Tag: Die Menschen brauchen jemanden, um ihre Gedanken zu testen. Sie brauchen Resonanz, wohlwollende Inputs und kritische Fragen. Oft passiert es, dass sich im Gespräch die Knoten von allein lösen, weil die Leute ihre Gedanken endlich mal laut aussprechen und sie dabei gleich weiterentwickeln oder ganz verwerfen.

Was ist abschliessend Deine Empfehlung an Menschen, die Fachtexte schreiben?

Schnappt Euch jemanden, mit dem Ihr über Eure Schreibprojekte sprechen könnt – und schenkt auch dieser Person Euer Ohr. Denn gemeinsam kommt Ihr in Euren Schreibprojekten viel weiter als allein.